Veröffentlicht in Allgemein, Entwicklung, Grundlagen, Wahrnehmung

Immer in Balance bleiben

Liebe LeserInnen,

„mit beiden Füßen fest im Leben stehen“, „nicht aus dem Lot geraten“, „nicht den Boden unter den Füßen verlieren“, „das innere Gleichgewicht finden“, „nach Halt suchen oder den Halt verlieren“ …

Im nachfolgenden Beitrag wollen wir euch einen Einblick ins vestibuläre System geben, dieses ist auch als Gleichgewichtssystem in aller Munde. Somit schon nah an dem Ort wo sich alles abspielt.

Blick auf… die Entwicklung

Das vestibuläre System entwickelt sich fast gleichzeitig mit dem auditiven System im Innenohr am Anfang der Schwangerschaft. Bereits ab der 16. Schwangerschaftswoche überwacht das Gleichgewichtssystem den Austausch der Sinnessysteme mit dem Gehirn und reagiert besonders auf Lage und Positionswechsel. Während der Schwangerschaft stimuliert die Mutter das vestibuläre System des Fötus durch ihre eigene Körperbewegung. Im Mutterleib erlebt das heranwachsende Kind sich durch das Fruchtwasser als schwerelos. Nach der Geburt muss sich das vestibuläre System zunächst einmal auf die Schwerkraft und die fehlende Flüssigkeit einstellen. Der Säugling sucht und braucht sichere Positionen mit viel Körperkontakt um klare Informationen über Körperpositionen zu erhalten (diesen erhält er besonders intensiv beim Austritt durch den Geburtskanal). Je mehr Informationen der Körper von außen (z.B. durch Körperkontakt, Kontakt zu Boden…) bekommt, umso leichter fällt es ihm seine Aktivität zu koordinieren/ bzw. eine Bewegung zu erlernen und dadurch Gleichgewichtsreize zu erfahren. Diese werden mehr und mehr vom Gehirn eingeordnet und verarbeitet.

Blick auf… die vestibulären Rezeptoren

Das vestibuläre System sitzt im Innenohr, genauer gesagt im Schläfenbein. Da das Gleichgewichtsorgan große Ähnlichkeit mit einem Irrgarten hat, der aus untereinander verbundenen Kammern und Röhren besteht, wird er auch als Labryinth bezeichnet. In dieser knöchernen Struktur liegen zwei Arten von Rezeptoren für das Gleichgewichtssystem.

Der Rezeptor für Schwerkraft

Der erste Rezeptor befindet sich in den Vorhofsäckchen und reagiert auf die Schwerkraft sowie die lineare Beschleunigung wie hoch und runter und vor und zurück.

Der Rezeptor für Drehbeschleunigung

Wir besitzen 3 Bogengänge im Ohr, hierin sitzt der zweite Rezeptor. In den Bogengängen befindet sich eine Flüssigkeit, welche sich bei jeder Kopfbewegung verändert. Bei Beschleunigungs- und Drehbewegungen wird ein Reiz ans Gehirn gegeben.

Beide Rezeptoren teilen uns mit, ob und wie schnell wir uns bewegen und wo wir uns in Beziehung zur Schwerkraft im Raum befinden.

Richtungs- und Bewegungsänderungen haben einen starken Effekt auf unser Gehirn, weil dieses System einfach so empfindlich und feinfühlig ist. Allerdings werden diese von uns nur sehr selten bewusst wahrgenommen, außer wir drehen uns zum Beispiel lange im Kreis oder fahren längere Zeit auf einem Karussell. Ist man länger auf dem Wasser unterwegs kommt es häufig vor, dass man auch noch abends und vor allem beim Schließen der Augen die Bewegung noch spürt.

Blick auf… die Funktionsweise

Das vestibuläre System ist für das Einhalten der Körperposition, aber auch für eine koordinierte Bewegung verantwortlich. In enger Zusammenarbeit mit der propriozeptiven Wahrnehmung und den Augen hält das Gleichgewicht uns im Lot. Der Körperschwerpunkt wird ständig und unbewusst in der Mitte gehalten, bzw. gezielt in eine Richtung bewegt. Die Propriozeption meldet hierfür unaufhörlich die Gelenkstellung und die Muskelaktivität ans Gleichgewichtssystem. Nur mit diesen Informationen können wir uns aufrichten und die Muskelspannung der jeweiligen Körperposition (ökonomisch) anpassen (Stell- und Haltereaktionen). Die Augen informieren des Weiteren ständig über die Stellung des Kopfes im Raum. Die Position des Kopfes ist das wichtigste Parameter des Gleichgewichtes. Hier zeigt sich nun absolutes Teamwork, denn die Augen registrieren die Position des Kopfes im Raum, reagieren aber auch auf Aktivität indem sie sich meist reaktiv entgegen der Kopfstellung bewegen. Bewegen wir den Kopf z.B. nach unten, bewegen sich die Augen reaktiv nach oben. Die Gegenbewegung unterstützt das „in Balance bleiben“ und die Orientierung im Raum.

Zu erwähnen bleibt noch die Größe der Fläche, auf die sich unser Körper stützt. Diese Unterstützungsfläche hat einen großen Einfluss auf die Arbeit des vestibulären Systems. In Bauchlage hat unser Körper z.B. viel Bodenkontakt/ Auflagefläche und demzufolge wenig oder nur langsame Bewegungsmöglichkeiten (z.B. kriechen oder rollen). Das Gleichgewichtssystem ist hier nicht extrem gefragt, da die Unterstützungsfläche (der Bodenkontakt) enorm ist. Anders sieht es im Stand aus. Hier ist es gar nicht so einfach den Körperschwerpunkt im Lot zu halten. Das vestibuläre System steuert hier konkret die Muskeln an, die uns in einer aufrechten Position halten. Je weniger Bodenkontakt wir haben, umso mehr arbeitet unser vestibuläres System. Wollen wir uns hingegen fortbewegen, muss der Schwerpunkt ein wenig nach vorne verlagert werden. Nur so kommt es zu einem Schritt. Je weiter ich das Gewicht dann nach vorne verlagere, umso mehr Beschleunigung entsteht und umso schneller werden die Bewegungen/ die Muskelreaktionen. Gleichgewicht ist also ein Spiel zwischen Gewichtsverlagerung und Haltereaktionen.

Blick auf… das eigene Gleichgewichtserleben

Selbsterfahrung:

1. Stelle dich auf ein Bein zunächst mit offenen und dann mit geschlossenen Augen. 2. Bewege deinen Kopf mit geschlossenen Augen nach oben und unten und beobachte was deine Augen tun 3. Nimm ganz bewusst die Gewichtsverlagerung VOR dem ersten Schritt wahr. 4. Drehe dich um die eigene Achse so schnell du kannst, bleibe stehen und schließe die Augen. ?????? Was passiert? ??????

Blick auf…Gleichgewichtsstörungen

  • Überdreht sein
  • schnelle und unkoordinierte Bewegungen (fällt in jeden Schritt hinein)
  • Breiter Gang, Robotergang, torkeliger Gang
  • Unsicherheiten im Alltag- häufiges Festhalten, Halt suchen
  • Bewegungsstarre, hohe Muskelspannung
  • Unsicherheiten beim Ausführen einer Tätigkeit mit häufiger Kopfbewegung oder Blickwechsel (z.B. abschreiben von der Tafel)
  • Unflexibel im Alltag
  • Ängstlichkeit
  • Schwindel, Blässe, Übelkeit, Augenzittern

Die oben genannten Auffälligkeiten können nur schwer dem Gleichgewichtssystem zugeordnet werden, da viele der beschriebenen Störungen auch beim taktilen und propriozeptiven System auftreten können. Daher bedarf es auch hier einer langfristigen Beobachtung und einer klaren Diagnostik. Oftmals werden die Auffälligkeiten nämlich nicht direkt auf das vestibuläre System zurückgeführt, da die Reaktionen nicht direkt mit diesem in Verbindung gebracht werden.

Blick auf… Gleichgewichtsübungen

Wie kann ich das „im Gleichgewicht bleiben“ unterstützen?

  • eine große Unterstützungsfläche (=Kontaktfläche die uns Stabilität gibt) geben
  • eine klare Körperinformation geben (Hand geben, Schultern berühren, Stabilität am Becken geben,…)
  • langsame Bewegungen üben/ anbahnen
  • mit Druckinformationen (Ansprache der Tiefensensibilität) arbeiten, z.B. Stampfen nach einem vestibulärem Reiz
  • Drehbewegungen gezielt und dosiert einsetzen
  • konzentriert auf eine Stelle blicken

Wie kann ich das Gleichgewicht schulen?

  • verschiedene Bewegungen in verschiedenen Körperpositionen durchführen- z.B. Stampfen mit den Füßen auf den Boden in Rückenlage, im Sitz und dann im Stand
  • auch das Drehen ist hier eine gute Übung- Drehen in Rückenlage, das Gewichtsverlagerung auf dem Stuhl und dann im Stehen (Nachspüren was passiert!)
  • Bewegungen mit offenen und dann mit geschlossenen Augen durchführen
  • Klassische Übungen wie Einbeinstand, Balancieren, …
  • Schaukeln, Klettern, Fahrrad fahren

Blick auf… mich

  • Fühle ich mich im Gleichgewicht?
  • Was bringt mich aus der Balance?
  • Wie sehr brauche ich die Augenkontrolle?
  • Probiere ich gerne neue Bewegungen aus?
  • Wie vertrage oder verarbeite ich Gleichgewichtsreize? (Schaukeln, Karussell oder Auto fahren?)
  • Der Gleichgewichtssinn verändert sich in der Regel mit zunehmendem Alter, kann ich das bei mir auch beobachten?

Die Beitragsreihe der Wahrnehmungssysteme ist hiermit beendet. Bleibt in Bewegung und in Balance.

Erlebt die Sommerzeit mit allen Sinnen. Wir melden uns im neuen Schuljahr wieder zurück!

Euer Team BlickKontakt